Mittwoch, 28. Januar 2004
Lebensmensch
Das hier hat mich erinnert. An zwei Menschen, die ich schon lange vermisse. Zwei Menschen, die für mich immer so etwas wie ein Weltwunder waren. Schon als Kind habe ich gespürt, wie besonders das ist, das sie verbindet. Wie außergewöhnlich es ist, nach Jahrzehnten noch regelmäßig Händchen haltend, küssend und verliebt lachend durch den Ort zu spazieren. R. und N. Die beiden, die nicht waren wie andere Paare.

Aufgewachsen auf benachbarten Bauernhöfen kannten sie sich ihr Leben lang. Eine Sandkastenliebe. Eine, die hielt. Bis daß der Tod sie schied. Daß es wirklich Liebe war, die der Tod letztlich schied, und nicht Gewohnheit, wußte jeder. Jeder, der sie kannte zumindest.

Unvergessen die Tage mit N., wenn R. nicht da war. Die beiden waren selten getrennt, aber R. liebte es, Kaffeefahrten zu machen. N. nicht. Deshalb blieb er zuhause. Und tat das, was liebende Menschen tun. Vermissen. Und aufgeregt der Wiedervereinigung entgegenfiebern. Den ganzen Tag war er geistig abwesend, der grobschlächtige Opaersatz mit den großen Händen. Ständige Blicke zur Uhr. Nachmittags wurde es für mich, die Beobachterin, aufregend. Dann begann er mit seinem Ritual.

Große Blumensträuße kaufen im Nachbarort. Das Abendessen zubereiten. Daß N. die Feldarbeit gewohnt war, aber nicht die Küchenarbeit, machte dies für mich als Kind zu einem lustigen Ereignis. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie tollpatschig er die einfachsten Handgriffe erledigte. Tollpatschig, aber nicht widerwillig. Im Gegenteil. Ich glaube, er liebte diesen Teil des Rituals. Ähnlich wie ein Kind, das seiner Mutter das Muttertagsfrühstück zubereitet, glühte er vor Feuereifer. Als Teenager habe ich es einmal gewagt, helfend eingreifen zu wollen und mir dafür seinen Zorn zugezogen. Es war sein Ritual, sein Geschenk.

Helfen durfte ich bei der Auswahl der Krawatte. Wie viele Menschen seiner Generation besaß er den typischen Sonntagsanzug. Den er zum Kirchgang trug. Und um seine Frau vom Bus abzuholen, nachdem sie die "große, weite Welt" erkundet hatte. Wir Pseudoenkelkinder waren immer mit dabei, wenn er herausgeputzt und mit Blumen bewaffnet zur Haltestelle ging. Nicht ganz uneigennützige Schützenhilfe, war doch ein kleines Mitbringsel zu erwarten.

Die Wartezeit war immer zermürbend und ich habe ihre Notwendigkeit lange nicht verstanden. War doch die Bushaltestelle nur etwa drei Minuten vom Haus der beiden entfernt, wir aber standen dort meist über eine Stunde vor der erwarteten Ankunft herum und warteten. In diesem Punkt duldete N. auch keinen Widerspruch. Wer ihm logisch kam, wurde nach Hause geschickt. Das habe ich niemals riskiert. Zu wertvoll war es, das große Ereignis mitzuerleben. Den Moment, in dem der ersehnte Bus endlich in Sichtweite kam. Adrenalin pur. Nicht nur wegen der Vorfreude auf das Mitbringsel. Vor allem wegen dieses Anblicks. Sobald die Heimkehr seiner Frau in so greifbarer Nähe war, sah N. unbeschreibbar euphorisch aus. Und gerührt. Als hätte er in Wirklichkeit gar nicht damit gerechnet, daß sie tatsächlich wiederkommt. "Wie ein Kind, das glaubt, dem Christkind begegnet zu sein", hat mein Bruder später einmal versucht, es zu beschreiben. Treffend, würde ich sagen.

So oft wie möglich habe ich diesen Augenblick versucht einzufangen. Mit einem diffusen Glücksgefühl als kleines Kind. Mit der absoluten Gewissheit, daß es genau so sein muß als größeres Kind. Und mit der Hoffnung, daß ich das auch erlebe. Später einmal, wenn ich dann endlich erwachsen bin.

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