Donnerstag, 1. Januar 2004
Ritualisiert
Jahreswechsel in einer Bahnhofshalle. Irgendwann ist mir aufgefallen, daß es keinen Ort für mich gibt, an dem Abschied und Begrüßung so nahe zusammen liegen und harmonisieren. Stimmig zu Silvester.

Der hektische Ort wird ruhig in dieser Nacht. Besinnlich vielleicht sogar, aber nicht langweilig. Die Menschen stehen sich auf diversen Silversterpfaden lieber gegenseitig im Weg und teilen durch Gesellschaft nahegelegte Heiterkeit. Wegfahren und Ankommen wird eher vermieden.

Für mich ist das Silvester. Wegfahren und Ankommen. In Frieden, von einem guten Ort zu einem anderen. Möglichst mit einem neuen, mit aufregenden Vorstellungen verknüpften Ankunftsort. Wenn das nicht geht, ist die Bahnhofshalle mein Ersatz, um das alte Jahr zu verabschieden. Frieden damit zu schließen, wenn nötig. Diesmal glücklicherweise nicht.

Diesmal hab ich ihn schon friedlich aufgesucht, meinen Silvesterort. Alleine, wie jedes Jahr. Manche Dinge verlieren an Qualität, wenn man sie teilt. Zwischen den Jahren in einer großen Halle stehen und beobachten. Menschen, die kurz ihre Hast ablegen. Menschen, die der Anlaß noch gehetzter wirken läßt. Menschen, die etwas loslassen müssen, aber nicht darauf kommen, es zu tun. Menschen, die viel loslassen müssen. Schon lange immer wieder mußten, möglicherweise sogar ihr ganzes Leben lang. Menschen, die sich an Flaschen festhalten. Immer, nicht nur zu Silvester.
Die sich trotzdem oder deswegen freuen können, daß es vielen an diesem Tag so geht. Auch solchen, die gar nicht viel verlieren. Oder verloren haben.

Hier gibt es keine gespielte Heiterkeit. Wenn Heiterkeit da ist, ist sie echt. Die Melancholie ist auch echt. Und die Menschen sind echt. Selbst, wenn sie sich in ihre Vergangenheit flüchten. Gerade in dieser Nacht.

Gestern war ich um Punkt Mitternacht doch nicht ganz alleine. Da war Blickkontakt mit einem alten Bekannten. Dem Zeitungsverkäufer. Fast schon "mein" Zeitungsverkäufer. Seit Jahren schon. Er merkt sich Gesichter gut. Und er teilt die Frauen in Kategorien ein. In "Ladies" und "Senoras". Ich bin eine Senora. War ich schon immer. Nach welchen Kriterien er das beurteilt, durchschaue ich nicht. Obwohl ich schon versucht habe, es herauszufinden.

Jedenfalls war er da gestern, am Westbahnhof. Ich auch. Er mit Schnaps, ich mit Kaugummi. Ein kurzes Lächeln des Erkennens kurz vor Mitternacht. Und ein Zuprosten um Mitternacht. Er mit der Flasche, ich mangels einer solcher mit meinem Kaugummi. Wird ihn schon nicht gestört haben. Der damit verbundene Wunsch ist der gleiche. Ich freue mich auf die nächste Begegnung mit ihm. Mehr als sonst, weil ich es zu schätzen weiß, daß er meine Privatsphäre nicht gestört hat. Auch wenn es nur so war, daß er seine nicht gestört wissen wollte. Egal wie herum. Schön war´s.

Auch anschließend, bei meinem Weihnachtsgeist. So schön, daß ich beim Aufwärmen in den Geisterarmen fast die wichtigsten drei Worte gesagt hätte. Den Impuls konnte ich gerade noch unterdrücken. Es wäre viel zu früh gewesen. Später. Vielleicht. Hoffentlich.

2004 wird sich soo sehr von 2003 wahrscheinlich nicht unterscheiden. Trotzdem freue ich mich darauf.

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