Mittwoch, 7. Januar 2004
Gleichgewichtsstörung
Man fängt etwas an. Weil man es für nötig hält. Weil es einem gut tut. Weil das Gefühl ja dazu sagt. Und weil der Kopf sich der Zustimmung anschließt. Man kniet sich eine Weile mit Feuereifer rein, investiert viel. Weil man hofft, man würde dadurch fähig sein, etwas zu ändern. Irgendwann. Auch wenn klar ist, daß Erkenntnisse Zeit zum Reifen brauchen. Irgendwann kommt sie dann, die Erkenntnis. Allerdings nicht die, auf die man gewartet hat. Man beschließt, daß es manchmal besser ist, alleine weiterzugehen. Auf das wohltuende, liebgewonnen Ritual zu verzichten. Aber nur eine Weile. Bis man einen bestimmten Punkt erreicht hat. Dann möchte man so schnell wie möglich das Ritual wieder aufnehmen. Damit es noch kein Abschied für immer ist. Damit man, ausgehend vom bestimmten Punkt, noch ein paar Schritte weitergehen kann. Begleitet. Damit man nicht alles alleine machen muß.

Dem Punkt, an dem man sich selbst erlauben kann weiterzumachen, wird entgegengefiebert. Am Anfang. Irgendwann ist der Gedanke nicht mehr so quälend, sich des Rituals beraubt zu haben. Und dem bestimmten Punkt entgegenzueilen scheint nicht mehr so eilig. Natürlich, man wird es schon schaffen. Im Dezember. Oder im Jänner. Aber erst im Alltag bleiben. Erst Prioritäten umordnen. Man denkt nicht mehr so oft an das Ritual. Oder das gesteckte Ziel.

Bis man eines Tages nichtsahnend den Anrufbeantworter einschaltet. Und darauf die Stimme findet. Die, die mit dem Ritual verbunden ist. Die man lange nicht gehört hat. Die man gerne wieder hören würde. Die vieles ahnt, aber das nicht auszusprechen braucht. Die so herzlich klingt in diesen 23 Sekunden am AB. Und ehrlich. Die weiß, daß sie nichts übel nehmen muß.

Man hört sie sich einige Male an und erinnert sich. An lange, häufige Zugfahrten, ein muffiges Treppenhaus, an Angst, an Gelächter, an Klarheit, an Verzweiflung. An Stunden und Tage ohne Alltag. Nach diesen einigen Malen erinnern überlegt man, sie zu löschen, die Stimme und ihre Worte. Vom AB, nicht aus dem Leben.

Aber man tut es nicht. Man hört die Stimme noch viele, viele Male. Immer wieder. Nach dem Aufstehen. Vor dem Schlafengehen. Wie ein neuentdecktes Lieblingslied. Wie eine Besessene.

Lieder verlieren ihren Reiz, wenn man sie zu oft hört. Die Stimme nicht. Sie läßt neue Nuancen erkennen, wird immer eindringlicher. Sie läßt die Zweifel wachsen. Ob man es jemals schaffen wird zurückzurufen. Ob man jemals sagen wird "Hey, da bin ich wieder. Auf ein Neues." Man zweifelt, ob man es schafft, den dafür nötigen Ausgangspunkt zu erreichen. Aber man zweifelt auch, ob man es noch für nötig hält. Sind doch gut gelaufen, die letzten Monate, oder? Oder vielleicht nicht?

Die Stimme läßt aber auch die Sehnsucht wachsen. Weil sie sich erinnert, weil sie einen nicht abgeschrieben hat. Ein guter Anlaß, wieder zu hoffen. Oder nicht?

Ich bin viel zu sehr in den Kopf gerutscht, in den letzten Monaten. Muß wieder in den Bauch zurückkommen. Nur ein bißchen. Nur fürs Gleichgewicht. Dann werde ich nicht lange überlegen müssen.

... link (0 Kommentare)   ... comment